Der Durst

Mir fehlt das Bild, die Vision, der ich nachlaufe. Stattdessen speise ich meine Vorstellungswelt aus Erinnerungen meines Lebens und der Leben der vor mir Gegangenen. Ich gehe jeden Tag mit verdrehtem Kopf durch die Welt, nähre eine Vorsicht, die es mir erlaubt, Laternenmasten auszuweichen ohne sie zu sehen, mit der Erfahrung meiner Ahnen. 

Aber jede Innovation bringt mich ins Stolpern, jede Revolution erschreckt mich. Neue Gedanken dringen durch mich und neue Worte verfehlen mein Ohr. Ich würde mich ausgeschlossen fühlen, wendete ich meinen Kopf nach vorn. Ich würde mich allein fühlen, wüsste ich um den Tod meiner Begleiter.

Aber es ist tröstlich und wirkt vollkommen, sein Leben derart hermetisch abgeriegelt zu verbringen. Es gibt keine ungestellten Fragen, es fehlen keine Antworten. Das Weltbild ist schlüssig. Jeder Zweifler wurde längst verbannt, die Fürsprecher geehrt und mir zur Seite gestellt. „Wenn Du Fragen hast, frag ihn“, hat man mir gesagt. „Wenn Du Zweifel hast, öffne Dich ihr“, wurde mir nahegelegt. Und so war ich allzeit geschützt und mein verdrehter Kopf konnte in seiner unnatürlichen Stellung verwachsen.

Die Sonnenuntergänge, die ich sah waren auf ewig verblichen, die Morgendämmerung stets fahl und neblig. Sich Gaumengenüssen und körperlichen Freuden hinzugeben erfüllte für mich nie einen Zweck. Jeglicher Kontakt zu meiner Umwelt wirkte wie gefiltert. Wahr war nur die Rückblende, auch wenn die Gespräche monoton verliefen und sich die Themen allmählich wiederholten. Die Sicherheit, zu wissen, was zu sagen ist, zu ahnen, was entgegnet würde, wog schwerer als der leicht zu unterdrückende Wunsch, das Zellophan vor meinem peripheren Blick zu durchbrechen.

Ich war zu aller Zeit beschützt, behütet, von leiser, ruhig fließender Liebe umgeben, die mir die aufbrausenden Wogen des wahren Lebens absurd und undurchdringbar erscheinen ließen. Wer stürzt sich schon ins Chaos, wenn er vom sicheren Ertrinken überzeugt ist? Ich jedenfalls nicht und so wandele ich mit einer vagen Unerschütterlichkeit durch mein Leben, meine Ahnen um mich wissend und meine Zeitgenossen innerlich verspottend. Aber natürlich nicht ernsthaft. Sie sind eben Suchende und können das stillle Glück nicht ermessen, das den ewig Findenden erfüllt, diesen sich im schnellen Wechsel selbst stillenden Durst.

Die Welt ist kalt

Die Welt ist kalt. Die Gemüter der Menschen haben Winter. Das Handeln, die Politik, die Wirtschaft, der Konsum ziehen sich zurück. Jeder igelt sich ein. Frost ist auf dem Vormarsch. Das Leben kommt zum Erliegen. Menschen nähern sich einander nur noch an, um die letzte Restwärme gegenseitig zu nutzen. Ein Großteil verfällt in Schlaf.

Es ist ein stummes Ende. Die Stille der schweigenden Menschheit wird nur durchzogen vom Bersten frierender Materie, vom Klirren herabfallender Eiszapfen. Gesprochen wird nicht mehr. Jeder Atemhauch wird aufgespart. Bis zur letzten Minute.

Koffein

Ich schütte den Kaffee in mich rein. Tasse um Tasse um… um endlich klar denken zu können. Irgendwann muss sich doch eine Euphorie einstellen. Irgendwann muss ich doch wieder Luft bekommen. Der ganze Nebel atmet sich so schlecht. Meine Lungen fühlen sich feucht an, mein Atem rasselt, meine Nase ist dicht. Ich weiß nicht mehr, wo es lang geht und vergesse, dass der Zug von selbst fährt, dass er den Weg kennt. Zumindest die Teilstrecke, die ich diesmal hinter mich bringe. Wohin führt mich dieses verdammte Schienennetz? Und ist es weit genug ausgebaut, um ein Ziel erreichen zu können? Wird es eine erwartete Ankunft werden, oder steige ich wieder nur auf einen Bahnsteig, auf dem ich der Einzige bin? Wird mich nach dem Ruckeln und Schaukeln der feste Beton unter den Füßen, wird mich die Stille nachdem der Zug außer Hörweite ist, wird mich diese gnadenlose Realität, die einem eigene Entscheidungen abringt, wieder niederstrecken?

Ich habe Lust, an Bord zu bleiben, meinetwegen im Kreis zu fahren oder auch in einem Bahnhof zu übernachten, denn ich weiß ja: der Zug wird wieder fahren. Doch was ist, wenn ich aussteige? Dann bin ich auf mich gestellt. Und wer bin ich denn? Wer bin ich anderes als der, der davon läuft, davon fährt vor allem, weil sich alles gegen mich gestellt hat? Und wo finde ich etwas, das mir zugewandt ist, das mich offen und herzlich empfängt, das einfach nur da steht und nicht weicht, wenn ich näher komme? Gibt es noch etwas heute, das mich liebt. Heute, nachdem meine Geschichte Teil dieser Welt geworden ist?

Ich denke es nicht, aber ich kann meinem Leben auch nicht feige ein Ende setzen. Überhaupt: die Angst vor Feigheit ist doch das einzige, was mich noch treibt. Diese Flucht ist mir wichtig. Sie ist es, die mir zumindest einen Sinn-Ersatz gibt bis ich wieder klar denken kann.

Ah, da kommt die nächste Tasse. Ich nicke dem Kellner nur und deute auf die Münzen, die ich schon aus lauter Ungeduld vor einer ewigen Minute auf die Theke gelegt hatte. Der Kaffee ist heiß, brühend heiß, aber meine Kehle bedeutet mir im Moment nicht viel und so schütte ich die tief-dunkle Masse in mich hinein als könnte sie einen Durst löschen, als wäre es der erste Schluck nach einer Odyssee durch eine Wüste. Und ich fühle mich wirklich wie auf einem Marsch, verfolgt von Träumen, die mit einem einzigen Fluch belegt sind. Dem, nicht vergessen zu können.

Weltenbrandung

Ein grün-blau-blinder Fleck in der Mitte meines Sehens verhindert den Blick auf meine tief-dunkle Mitte. Selbst bei geschlossenen Augen. Ich schwebe zwischen dem matschigen Schwarz, das sich über die umgebende Schwärze legt und dem Ungewiss in meinem Rücken. Ich wünschte tiefes Sinken oder Fallen und verharre dennoch. Mein Geist ist schwach, meine Gedanken halten mich in meiner Schwebe, verhindern jeden Schein, der mich verführen könnte, doch zu gehen. So wache ich und werde wieder ich.

Gefühl einer Nächsten (Skizze)

Entmutigt von falschen Vorwürfen. Der Heimat, ein guter Mensch sein zu wollen, beraubt. Die Hoffnung in Tränen ertränkt.

Trauer und Furcht vor dem Verlust der eigenen Liebe. Angst, sie nicht mehr geben zu können. Das kräftige Herz neu aufstehen zu lassen wird zunehmend zum Kampf.

Glaubensverlust: Tod der Gedanken; Aufgabe der Aufgabe; dünn gewordener Sinn.