Ein Silvester ganz ohne Silvester-Gefühl – ohne das mit Spannung und Erwartung Auf-Nulluhr-Hinfiebern. Es ist ja lediglich eine von vielen Mitternächten. Unser Erwachsenenbewusstsein bereitet die Entzauberung. Wenn der Tageswechsel zum Alltag gehört verliert der Jahreswechsel seine Mystik.
Als wir noch Kinder waren und die Geisterstunde unerreichbar wirkte, man gegen Müdigkeit und elterliche Argumente ankämpfen musste, um diese magische Schwelle zu erreichen, fühlte es sich noch an, als würde man eine Grenze ertasten, einen unwirklichen Punkt in unserer Realität erfahren können, wenn man nur im richtigen Moment bei Bewusstsein mit aufgerissenen Augen in die Luft starrte. Der pure Glaube daran, die unbekannte tief-nächtliche Dunkelheit, die irrwitzigen Erwachsenen, die über Unverständliches lachen konnten, gaben uns das Gefühl, als würden wir kollektiv etwas erleben können, das uns Gott, oder Gott-weiß-wer, eigentlich vorenthalten wollte – einen Zeitsprung, einen Riss in der sonst so stabilen Hülle der Realität – und etwas hervortreten würde, das unsere jegliche Vorstellung übersteigen würde.
Doch nach den Jahren, in denen man sich noch klein fühlte und dachte, man würde das Ausmaß des Wunders noch nicht ganz begreifen können, begann langsam die Ernüchterung. Ein Jahreswechsel war nicht anders als die Nacht durchzuarbeiten. Selbst der Wechsel eines Jahrzehnts wurde nur wenig wichtiger als der Wechsel zum nächsten Monat. Und wer es bis zur großen Milleniumsblase ausgehalten hat, den Glauben aufrechtzuerhalten wurde spätestens nach diesem gebündelten Nacht des Wechsels von Tag, Monat, Jahr, Jahrzehnt, Jahrhundert und Jahrtausend enttäuscht, als am nächsten Tag lediglich ein paar skandinavische Supermarktkassen die Abrechnung verweigerten, wir aber weit entfernt von dem angekündigten, unbeabsichtigten Atomerst- und -zweitschlag waren. Das Leben ging einfach weiter. Kein Luftanhalten, kein Sekundenrunterzählen, kein Nochmehralssonstbetrinken vermochte es auch nur für die Sekunde des Jahressprungs anzuhalten, seine wahre Identität zu zeigen, es zu entlarven.
Es blieb kalt und der Mensch, dem man tief in die Augen sah, dem man den ersten Kuss des Jahres gab, wurde nicht mehr geliebt, nicht weniger gehasst, als im vergangenen Jahr.
Es ist als hätten wir alle beim Eintritt in das Leben einen Vertrag unterschrieben, zu dessen Bedingungen es gehört, dass das Leben allein entscheidet, wann und wo die wahren Wendepunkte in der eigenen Biografie auftauchen. Der Kontrollzwang des Menschen versucht, sein Leben auf selbst festgelegte Momente auszurichten. Der schönste Tag soll die Hochzeit sein, an Weihnachten soll die Familienliebe zeigen, was sie kann und an Silvester sollen sich die Weichen geschmeidig neu stellen lassen.
Aber Gott- oder Gott-weiß-wem-sei-Dank ist das Leben überraschender.